Im Gedenken an die Opfer von Solingen

Im edlen Koran heißt es: "[...] Wenn jemand einen Menschen tötet, so ist es, als habe er die ganze Menschheit getötet! [...] “1

Verehrte Gemeinde,

Dieser Vers ist uns sehr vertraut und verliert keinen Tag an Bedeutung. Heute ist sie für uns sehr wichtig, denn vor 30 Jahren verstarben in Solingen 5 Menschen nach einem rechtsextremen Hass-Verbrechen, 17 weitere wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt. Fünf Leben wurden ausgelöscht, viele weitere zerstört.

Saime Genç wurde ermordet als sie 4 Jahre alt war. Heute wäre sie 34. Hülya Genç ging im Alter von 9 Jahren auf diese grausame Weise von dieser Welt. Sie wäre heute 39 Jahre alt. Gülüstan Öztürk, war 12 Jahre alt. Heute wäre sie 42. Hatice Genç war 18 und wäre heute 48 Jahre alt. Gürsüm İnce wäre heute 57 Jahre alt und verlor mit 27 ihr Leben.

Sie alle konnten weder studieren, Karriere machen, heiraten noch Mutter werden. Mit ihnen wurden ihre Träume, Wünsche und Chancen begraben. Diese fünf Mädchen und Frauen haben den 29. Mai 1993 nicht überlebt. Sie wurden von Rechtsradikalen getötet. Ja, Hass kann tödlich sein.

Geehrte Gläubige!

Wir haben diese fünf Menschen nicht kennenlernen dürfen. Sie wurden jäh aus dem Leben gerissen und hinterließen eine große Lücke. Denn mit ihnen starb viel mehr: Es starb das Vertrauen in den Staat, der seine Bürger nicht schützen konnte. Es starb das Gefühl von Beheimatung für die Generationen, die den Brandanschlag miterlebten. Es starb das Gefühl von Sicherheit, Zukunft und Hoffnung. Mit diesen 5 jungen Frauen starben gefühlt auch wir, die türkische Community hier in Deutschland. Nach der unerträglichen Asyldebatte, begleitet von „Das Boot ist voll“-Rufen. Die Tragödie kündigte sich über Monate an, spitzte sich in hunderten pogromartigen Übergriffen zu und gipfelte im Terrorakt von Solingen.

Deutschland stand still an diesem Tag. Und trotzdem, das Leben ging weiter, musste weitergehen. Ein großes Vorbild, wie man mit diesem Schmerz und Leid umgeht, waren Mevlüde und Durmuş Genç. Die Opfer dieses Terrorakts waren ihre Töchter, Enkelinnen und Nichte. Sie waren auch Ehefrau, Mutter, Tante, Töchter und Cousinen. Waren Nachbarn, Freunde und Klassenkameraden. Waren „Gastarbeiter“, Türken und Ausländer. Sie waren eben 5 Menschen mit familiären und gesellschaftlichen Bindungen. Daher berührt uns ihr Tod so tief und schmerzlich.

Insbesondere Mevlüde Genç war uns zeitlebens ein Vorbild an Menschlichkeit, Verständnis und Gottvertrauen. Sie schöpfte Kraft aus ihrem Glauben und der Gemeinschaft, der sie immer auch eine Rechtleitung war. Sie lebte den muslimischen Grundsatz: „Nicht gleich sind die gute Tat und die schlechte Tat. Wehre mit einer Tat, die besser ist, (die schlechte) ab, dann wird derjenige, zwischen dem und dir Feindschaft besteht, so, als wäre er ein warmherziger Freund.”2

In ihrer religiösen Haltung, die sich in ihrem Handeln spiegelte, war sie uns eine Mahnerin, dass wir uns gemeinsam gesellschaftlichen Entgleisungen entgegenstellen müssen. Und dass wir eine Erinnerungskultur brauchen, die den Opfern und Angehörigen eine Stimme gibt. Und ihnen Gehör verschafft. Die Erfahrungen aus den furchtbaren Ereignissen in Solingen und auch Mölln sind der Schlüssel in eine Zukunft, die ohne Betrachtung der Vergangenheit unmöglich ist. Wir müssen ausgrenzende, rassistische und menschenfeindliche Haltungen als Gemeinschaft ablehnen. Wir müssen dem etwas Positives, Starkes und Zuversicht entgegenstellen. Wir müssen auf unsere Sprache und aufeinander Acht geben. Denn Solingen 1993 nimmt uns alle in Pflicht und Verantwortung.

Für alle durch diesen und andere rechten Terrorakt Getöteten erbitten wir Allahs Segen und Barmherzigkeit, möge Er sie in Seine Gnade aufnehmen. Den Hinterbliebenen und ihren Familien, sprechen wir unser tiefstes Beileid aus. Möge Allah ihnen und uns Allen Geduld und Kraft geben. Mit der Abschiedspredigt unseres geliebten Propheten (s) vor mehr als 1400 Jahren möchte ich diese Predigt beenden: „O ihr Menschen, achtet gut auf meine Worte. Euer Herr ist einer. Euer Vater ist auch einer. Ihr seid alle Kinder Adams, und Adam ist aus Lehm. [...]“3

Die DITIB-Predigtkommission

 

Koran, al-Maida, 5/32.
Koran, al-Fussilat, 41/34.
3 Bayhaqi, Schuabu’l-Iman, 7/132, Hadis: 4774.



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