Köln, 28.06.2012: Das Kölner Landgericht bewertete unlängst die Beschneidung bei Jungen in Befolgung eines religiösen Gebots, einer Tradition oder in Umsetzung des Willens der Eltern als Körperverletzung. Ein Akt, der in Missachtung der Religion und der hieraus entstandenen Tradition einen Eingriff in diese darstellt und weder von einem ausgeprägten Rechtsverständnis zeugt, noch von gesamtgesellschaftlicher Verantwortung.
Das Urteil wird in der Folge sicher noch eine ganze Reihe von unnötigen Diskussionen nach sich ziehen und insbesondere mit den Risiken, die es in sich birgt, für Unmut sorgen.
Die medizinische Fachwelt spricht sich heute durchaus pro Beschneidung aus, ja sie rät sogar dazu an. Des Themas müssen wir uns an dieser Stelle aber vielmehr an- und hierzu Stellung nehmen, da es Gegenstand eines Gerichtsurteils war. So scheint es leider vielmehr angebracht einzugehen auf die Religionsfreiheit, die Herausbildung der religiösen Identität, die Zugehörigkeit eines Gläubigen zu seiner Religion. Und in diesem Rahmen auch auf das Rechtsverständnis und dessen Umsetzung.
So beschreibt die Rechtsphilosphie die Rechtssicherung, den Schutz des Individuums und dessen Rechte zu seinen vördersten Handlungsprinzipien. Zu subsumieren hierunter sind nicht nur seine biologische Unversehrtheit, sondern auch seine Meinungs- und Gewissensfreiheit, seine Religion, das Recht auf die Ausübung seiner Gottesdienste und seine Entscheidungsfreiheit und damit der Schutz seines Seins auch mit Verstand, Gefühl und Wahrnehmung. Dazu gehört auch die Achtung und der Schutz der Traditionen der Menschen, auf dass diese in einem gedeihlichen Miteinander zusammen leben.
Der interdisziplinäre Ansatz in der Wissenschaft lehrt uns, ein Thema - ganz gleich welches - nicht reduziert, aus einem verengten Blickwinkel zu betrachten, sondern sich dessen aus unterschiedlichen Perspektiven anzunenehmen, es quasi in seiner Ganhzeit zu betrachten.
Seit Jahrhunderten kennt die Welt die Tradition der Beschneidung bei Jungen. Ganz gleich, ob aus religiösen oder kulturellen Motiven heraus. Besonders die semitische Tradition kennt diese Praxis. Keiner der abermillionen Menschen, unzähligen Gesellschaften und Rechtssysteme hat diese Tradition bis heute als “Körperverletung” bewertet. Dem Islam ist die körperliche Unversehrtheit des Menschen ein hohes Anliegen. Nicht nur zu Lebzeiten, sogar nach dem Ableben gilt es dem Menschen keine Wunden oder sonstigen Qualen zuzufügen.
Aus Sicht des Islam und der Identität der Muslime betrachtet ist die Beschneidung der Jungen ein religiöses Gebot - gesellschaftlich akzeptiert und Teil der Tradition. Wie sehr auf diese religiöse Tradition geachtet werden muss, mag veranschaulichen ein Blick auf die gesellschaftliche (Nicht-)Akzeptanz des Nicht-Vorgenommen-Seins der Beschneidung: muslimische Jungen und Männer, die in einem Klima der religiösen Unterdrückung manchmal erst später/nachträglich die Beschneidung vornehmen lassen können, gelten zuweilen (erst) damit als (richtige) Muslime - “Nun ist er ein Muslim!” hört man ihre Mitmenschen sagen.
Das Beispiel einiger Länder vor Augen, in denen Muslime, bis vor Kurzem noch, nicht sonderlich Religionsfreiheit genossen - namentlich seien sie hier nicht genannt - und die Beschneidung hier nicht nur verboten war, sondern das Einhalten dieses Verbotes sogar kontrolliert und ein Zuwiderhandeln bestraft wurde, muss man sich fragen, wo und in welchen Zeiten wir mit diesem Gerichtsurteil wieder leben.
Rechtssysteme müssen die Gesellschaft und ihre Individuen betrachten in ihrer Ganzheit: Sie akzeptieren in ihrem Sein in und mit ihrer Religion, ihren Traditionen und dem, was ihre Identität ausmacht. Ihre Tradition und ihr Brauchtum sogar mit heranziehen bei der Rechtsschöpfung, diese als Quelle Letzterer betrachten.
Das aktuelle befremdliche Urteil hat nun Diskussionen entfacht. Wir hoffen, dass diese alsbald wie möglich eingedämmt werden durch ein Rechtsverständnis, das den Menschen als Einheit von Körper und Geist sieht und die Gewährleistung der Religionsfreiheit nicht nur als nachfolgende Aufgabe sieht, sondern als grundlegende.
Zusammengefasst ist die Beschneidung bei Jungen ein religiöses Gebot im Islam und ein Identitätsmerkmal in der religiösen Tradition. Anbetracht dieser Eindeutigkeit des religiösen Gebots, der daraus entstandenen Tradition und der gesellschaftlichen Akzeptanz sind die nun entfachten Diskussionen wohl vor dem Hintergrund des herrschenden und gängigen Islam-Bilds in Deutschland zu verstehen: Ein Gerichtsurteil, das die Beschneidung als “Körperverletzung” einstuft und damit einem Identitätsmerkmal, einem identitätsstiftenden Moment eines Gläubigen zuwiderspricht - trotz dessen jahrhundertelanger Praxis und Akzeptanz - widerspricht damit noch mehr. Nämlich der Religionsfreiheit, dem Erziehungsrecht der Eltern, ihrem Recht auf die Erziehung in einer bestimmten Religion, ihrem Recht, hierüber zu entscheiden und nicht zuletzt auch dem Recht eines Kindes auf eine Zeremonie, die regelrecht den Eintritt in sein religiöses und soziales Gemeindeleben symbolisiert. Ein Einschnitt und Eingriff in die religiöse Identität der Individuen!
Wird damit nicht abermals Tür und Tor geöffnet für eine erneute Ausgrenzung und Diskriminierung über die religiöse Identität und religiöse Symbole?
Prof. Dr. Ali DERE
Vorsitzender
DITIB-Dachverband
KRM - Pressemitteilung (Download)