Köln, 24.05.2023: Am Morgen des 29.5.1993, wurden bei einem rassistischen Terrorakt in Solingen fünf Menschen ermordet: Gürsün İnce (27J.), Hatice Genç (18J.), Gülüstan Öztürk (12J.), Hülya Genç (9J.) und Saime Genç (4J.). 17 Menschen erlitten schwerste, zum Teil bleibende Verletzungen.
Alle Opfer wurden im Schlaf vom Feuer überwältigt. Die Niedertracht und Menschenfeindlichkeit dieser Tat macht fassungslos, ebenso die Haltung der damaligen Regierung, die den Opfern von Mölln und Solingen die Anteilnahme und Solidarität mit dem Statement „Man wolle nicht in Beileidstourismus verfallen“ verweigerte.
Der Brandanschlag in Solingen, bei dem 5 unschuldige Menschen den jähen Tod in den nächtlichen Flammen fanden, war der entsetzliche Höhepunkt einer Gewaltwelle, die sich durch das kürzlich vereinte Deutschland zog. Brandanschläge in Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen, und der Umgang damit, sind Ausdruck eines unfassbaren politischen Versagens. Je gewalttätiger die Anschläge wurden, desto defensiver wurde die Politik, desto schwächer waren Sicherheitsbehörden und die Verteidigung der Grundrechte.
Das Unwort[1] des Jahres 1993 war „Überfremdung“. 1992 waren Beileidstourismus (für Trauerkundgebungen anlässlich der Morde von Mölln) und auf-/abklatschen (tätliche und tödliche Angriffe auf Ausländer) in der engeren Auswahl, 1991 das Unwort ausländerfrei (fremdenfeindliche Parole in Hoyerswerda) und zweitplatziert durchrasste Gesellschaft („Mischung“ Deutscher mit Ausländern; CSU-Spitzenpolitiker). Zum Unwort des Jahres 2022 auf Platz 2 wurde „Sozialtourismus“ gesetzt, benutzt im Zusammenhang mit ukrainischen Kriegsflüchtlingen (CDU-Spitzenpolitiker), und war bereits 2013 Unwort des Jahres.
Diese Unworte fallen also nicht vom Himmel, sondern entstehen per Definition durch den Gebrauch im öffentlichen Kontext, insbesondere in Politik und Kampagnenjournalismus, womit sie einen wesentlichen Einfluss auf gesellschaftliche Wahrnehmung und daran anschließende Diskussionen und Entwicklungen haben. Die beiden Unworte des Jahres Überfremdung (1993) und Sozialtourismus (2022), die fast 30 Jahre auseinanderliegen, zeigen, dass gängige Mechanismen nach wie vor auf vergleichbare Weise bedient werden. Für kurzfristige politische und mediale Aufmerksamkeit werden langfristig der soziale Frieden, ja sogar gesellschaftliche Sicherheit und Zusammenhalt geopfert.
Herbert Schnoor, damaliger Innenminister von NRW (1980-1995), sagte rückblickend „Wenn junge Menschen erleben, wie Politik über Flüchtlinge und Ausländer spricht, dann muss man sich nicht wundern, wenn Jugendliche diese verbale Gewalt in brutale Gewalt übersetzen“. Dieser Satz ist aktueller denn je. Und trifft längst nicht mehr nur auf Jugendliche zu. Wir erleben über den Alltagsrassismus hinaus, dass eskalierender Fremdenhass und Menschenfeindlichkeit Produkt und Abbild gesellschaftlicher Entgleisungen sind. Sie schlagen sich in Worten, nicht selten in Taten und bisweilen Terror nieder.
Ende 2022 starb Mevlüde GENÇ, die 5 Familienmitglieder bei dem Terrorakt in Solingen 1993 verlor. Sie war allzeit eine kummervolle Mahnerin für gesellschaftlichen Zusammenhalt und ein unerschütterliches Symbol der Versöhnung. Als Sinnbild einer deutschen Tragödie, wurde sie zur Mutter der türkischen Community in Deutschland. Denn auch die Verletzung, der Schmerz und der Verlust der türkischen Bürger war tief. Die beiden Brände in Mölln (11/1992) und in Solingen (05/1993) stellen immer noch eine tiefe Zäsur in der Wahrnehmung für die türkeistämmigen Bürger dar: es gibt eine Zeitrechnung VOR und NACH Solingen. Denn diese rechte Terrorwelle und der staatliche Umgang damit hat nachhaltig das Gefühl der Beheimatung und Sicherheit türkischstämmiger Menschen beschädigt. Seit Jahrzehnten und Generationen hallt dies nach. Und immer noch, 30 Jahre später, zeigen Übergriffe auf Flüchtlinge, Migranten, Muslime, ihre Organisationen und Gotteshäuser, dass es schlecht gestellt ist um das politische und gesellschaftliche Klima.
Berichte über rechtsradikale Chat-Gruppen bei der Polizei, Bundeswehr oder Bundesbehörden, Brandbriefe von Lehrern, die sich von rechtsradikalen Entwicklungen bedroht fühlen, Hitlergruß, Hakenkreuz und rechte Musik beispielsweise an der Schule in Berg (Spreewald) oder Naziparty mit Hakenkreuz im Schrebergarten (Döbeln) – all dies sind Momentaufnahmen davon, wie aktuell das Thema nach wie vor ist. Von sprachlichen und politischen Entgleisungen ganz zu schweigen.
An Geschichte erinnern, heißt auch, aus Geschichte lernen. Verbunden mit dieser Hoffnung wünschen wir den bei dem Terrorakt in Solingen getöteten Menschen und allen anderen Opfern von Rassismus und Terror die Barmherzigkeit Gottes. Möge Allah sie in Seine Gnade aufnehmen und den Hinterbliebenen weiterhin viel Geduld und Kraft geben. All ihnen gilt unsere Solidarität und unsere tiefste Anteilnahme.
DITIB-Bundesverband
HINWEIS:
Darüber hinaus wird diesen Freitag, 26.05.2023, eben dieses Thema auch in der Freitagspredigt thematisiert werden.
Anschließend an das Gebets werden 1.000 rote Rosen mit Gedenkkärtchen an die Gebetsbesucher verteilt.
Am 29.05.23 um 12 Uhr findet eine zentrale Gedenkveranstaltung für die Todesopfer des Hausbrands in Solingen auf der Platzfläche der Zentralmoschee Köln statt.
Anschließend an die kurzen Redebeiträgen wird ein Gedenkgottesdienst (Mevlid-i şerif) im Gebetssaal abgehalten.
Adresse:
Zentralmoschee Köln
Venloer Straße 160, 50823 Köln