Zu den aktuellen Entwicklungen um die Mordserie der rechtsextremistischen Terrorzelle

Köln, 20.11.2011: Die Ereignisse der letzten Tage über die rechtsextremistische Terrorzelle aus Jena, die neofaschistische Gruppe „Nationalistischer Untergrund“ und deren Deck- und Hintermänner haben die Migranten und die muslimischen Gemeinden tief erschüttert. Die Ratlosigkeit vor der aktuellen Situation und ihrer immer tiefer gehenden Hintergründen und Details, stören das jahrelange Vertrauen der Migranten und Muslime in den Staatsapparat erheblich. Die geplante und gezielte Ermordung von Menschen ist der demokratischen Grundeinstellung der Bürger und des Staates derart zuwider, dass ihr Stattfinden auch an dieser Einstellung rüttelt. Übergriffe auf Menschen anderer Ethnien und Religionen, und damit auch auf ihre Gebetsstätten, hat es auch in Deutschland immer wieder gegeben. Diese wurden mit Verweis auf andere Länder zum Teil verharmlost oder bagatellisiert. Die DITIB hat auf diese Vorfälle immer wieder im Einzelnen, aber auch im Gesamtkontext reagiert, jedoch im Unwissen darum, dass manche Vorkommnisse interne strukturelle Zusammenhänge und Ausläufer tief bis in die Gesellschaft und ihre Verwaltungseinheiten hinein haben könnten.

Prof. Ali Dere, Vorsitzender des Dachverbandes der Türkisch-Islamischen Union (kurz: DITIB) sagt dazu: “Nicht allein, dass wir umso betroffener erneut um die Ermordeten trauern, uns allen ist das Wissen um die Hintergründe ein weiterer schwerer Schlag, der kaum nachzuempfinden ist, zumal die Opfer dieser menschenverachtenden Mordserie hauptsächlich Türkischstämmige sind. Aus dieser tiefen Betroffenheit, dem Entsetzen und der weiten Fassungslosigkeit sind nunmehr dauerhafte Lösungen und Ansätze mit konstruktiven Vorschlägen und notwendigen Vorkehrmechanismen gefordert, die neben der Solidarisierung mit den Opfern, auch der Bedürfnislage der Migranten gerecht wird. Um die Sprachlosigkeit über diese kaltblütige Mordserie zu überwinden, mag ein Blick in die derzeitige Situation unter dem Aspekt begleitender Umstände notwendig sein.“

In Demokratien, insbesondere in den westlichen Demokratien, stehen neben den demokratischen Prinzipien und deren Umsetzung nicht nur das politische Mitwirkungsrecht und die politischen Organisation im Vordergrund. Vielmehr sind in der Vorstellung der westlichen Demokratien neben dem Partizipationsprinzip auch das zentrale Moment die Grundrechte eines jeden Bürgers als freies, gleiches und gleichberechtigtes Mitglied, ausgestattet mit umfassenden allgemeingültigen Menschenrechten, sodass er sich in die Gesellschaft gleichberechtigt einbringen kann, um selbige als Teil dessen mit zu gestalten und mit ihr in Wechselwirkung zu treten. Ebenso hat der demokratische Staat einem jeden Bürger gegenüber umfassende Schutzpflichten, jeden einzelnen Bürger vor Rechtsgutsverletzungen und Übergriffen Dritter zu bewahren und selbige durch geeignete Maßnahmen zu verhindern.

Leider ist zunehmend mit Entsetzen zu verzeichnen, dass in vielen europäischen Ländern, wo Menschen zwar nach dem Grundprinzip der Gleichheit und Würde geboren, trotzdem einer diesen Idealvorstellung widersprechenden Lebensrealität in Angst leben, diskriminierenden, aggressiven und gewalttätigen rechtsextremen Bewegungen und Bestrebungen, deren ideologisch äußerst bedenklicher Unterbau darüber hinaus in der politischen Arena zunehmend eine Plattform findet, ausgesetzt sind.

Zuletzt war ganz Europa schockiert über das Oslo-Attentat, nicht nur wegen der Vielzahl seiner Opfer, sondern auch weil dieses Attentat lange Zeit vorher geplant und kaltblütig umgesetzt wurde. Es folgte keine angemessene Gegenmaßnahme, wie man bei ähnlichen Übergriffen gewohnt ist. Anti-Terror-Pakete, die in anderen Kontexten sehr schnell konsequent umgesetzt wurden, blieben aus. Auch in diesem Fall ist die bagatellisierende Haltung der Staatsbehörden markant gewesen und blieb damit mitverantwortlich an der Mordserie. Die europaweiten Entwicklungen und Verstrickungen rechtsextremistischer Vereinigungen und die Vernetzungen untereinander machen es scheinbar notwendig, europaweit gemeinsam zu arbeiten, um auch präventiv wirken zu können. Rechtsextreme Taten und Täter, vor allem auch die gewaltbereiten, sind über diese Entwicklungen längst nicht mehr lokal aktiv, sondern formieren sich auch in ihren Partei- und Organisationsstrukturen inzwischen national und international. Darauf auch im Rahmen der EU-Politik in entsprechenden Kommissionen und durch entsprechende Maßnahmen zu reagieren, ist stärker angemahnt denn je.

Dieses Entsetzen über die augenscheinliche Gewaltbereitschaft rechtsextremer Ideologien nämlich löst in allen zunehmend tiefste Betroffenheit und Bestürzung aus, manchmal gar wird daraus ein permanentes Trauma, in dem Sprach- und Fassungslosigkeit die Emotionen bestimmen.

Jede Tat und jedes Opfer haben Betroffenheit und Trauer in den verschiedenen Städten unserer Republik ausgelöst. Dass die vielen kaltblütig geplanten Taten und die brutale Ermordung der Migranten nach Jahren durch einen Zufall aufgedeckt wurde, dass hinter den rechtsextremistischen Taten systematische Strukturen und Netzwerke wirken und dass zuständigen Stellen durch unentschuldbare Auslassungen und Versäumnisse diesen vielen Fällen begegneten, wirkt jenseits des unsäglichen Leides im wahrsten Sinne unverständlich und schockierend.

Wenn Deutschland sich auch nach eigenen offiziellen Angaben als Einwanderungsland versteht und hier über 15 Millionen Migranten oder Menschen mit Migrationshintergrund leben, dann besteht angesichts der aktuellen Entwicklungen, durch täglich neue Enthüllungen und Erkenntnisse genährt, die Notwendigkeit, sich nicht nur der Lebensbewältigung, sondern gleichzeitig auch der Bedrohungslage und Bedrohungswahrnehmung der Migranten gewahr zu werden.

Diesbezügliche Äußerungen, Kritiken und Forderungen gesellschaftlicher, religiöser und politischer Akteure können hier einen bedeutsamen und notwendigen Wendepunkt markieren. Daran werden sich auch die zu treffenden Maßnahmen orientieren und messen müssen. Begleitende Reaktionen, allen voran durch die Regierung und ihre Institutionen, aber auch durch soziopolitische und religiöse Einrichtungen, Medien, Intellektuelle und die Gesellschaft selbst, werden durch Migranten dieses Landes auf Glaubwürdigkeit und Nachhaltigkeit geprüft werden.

Insbesondere im Rahmen des am Montag, den 21.11.2011, stattfindenden Gipfels in Berlin wird hoffentlich zum Ausdruck kommen, dass das Integrationskonzept, seine Inhalte aber auch die öffentliche Wahrnehmung und Diskussion endlich sich vom defizitären Ansatz hin zu einem verständigen, unterstützenden Ansatz entwickelt, der auch der Problemlage und der Lebensrealitäten der Migranten Rechnung trägt. Darüber hinaus muss Integrationspolitik auch bedeuten, dass die Problemlagen, Bedürfnisse und Nöte wahrgenommen, alltägliche Ungerechtigkeiten, An- und Übergriffe nicht verharmlost und verschleiert werden.

Wenn darüber hinaus der Fokus bei der Integrationsdebatte ständig auf Unzulänglichkeiten, Defizite und Versäumnisse der Migranten und selbige wiederum als Problemursache und –verursacher diskutiert werden, so öffnet dies auf individueller, aber auch gesellschaftlicher Ebene Diskriminierung, Ausgrenzung und Behinderung Tür und Tor.

Insbesondere dann, wenn die Integrationspolitik über die Migranten hinweg die Muslime in den Fokus nimmt, darin eine Mündigkeit der Muslime im eigenen religiösen Leben und religiösen Verständnis in Frage stellt, zurechtzuweisen und eigenen Maßstäben und Zielsetzungen zu unterwerfen sucht, dann wirkt sich dies ebenfalls auf den Meinungsbildungsprozess im Öffentlichen, wie Privaten aus. So wird das Verständnis von Religionsfreiheit in Annäherung, Einordnung und Verortung substanziell wie auch systematisch und rechtlich ausgehöhlt. Ein solcher Ansatz würde im Übrigen nicht nur gegen die Religionsfreiheit und darüber hinaus gegen das Neutralitätsprinzip verstoßen, sondern es stellt ebenfalls die Muslime als defizitär und unmündig dar. Dies beobachten wir im Übrigen in vielen gesellschaftlich relevanten Bereichen, die die Lebensrealitäten maßgeblich mitgestalten, wie etwa bei der Einführung islamischen Religionsunterrichts auf Länderebene, der Etablierung islamischer Lehrstühle im universitären Bereich oder aber in den begleitenden Diskussionen und Maßnahmen um Moscheebauten und dem muslimischen Gemeindeleben. Hier verschwimmen Grenzen der Religionsfreiheit oder werden überschritten, die der Begegnung mit und der Wahrnehmung der Muslime auf selber Augenhöhe entgegenstehen.

All dies zusammengefasst manifestiert sich in Zugangsbarrieren und Hindernisse in Bildung, Beruf und sozialem Leben, die eine Teilhabe an, aber auch die Teilwerdung mit der Gesellschaft mindestens erschweren, bisweilen gar verhindern. Dies schafft einen verhängnisvollen Nährboden für “niederschwelligen“ Rassismus, der sich in pauschalisierten und generalisierten Zuschreibungen verfängt und darin ebenfalls verhaften bleibt.

Die Zukunft und der Friede eines jeden Landes misst sich am gesellschaftlichen Zusammenhalt und dem Zusammengehörigkeitsgefühl, das es zu schaffen und vermitteln vermag. Hierin spielt gerade in Einwanderungsländern die Gleichberechtigung und Anerkennung der Migranten als Individuen, aber auch Empathie und ein gesellschaftlicher “common sense“ eine tragende Rolle. Der gesellschaftliche Kitt in Deutschland als multiethnische und multireligiöse Gesellschaft sollte in aller Integrationspolitik das zentrale Moment sein, das herzustellen und zu erhalten es gilt.

Tief ist unsere Betroffenheit über die Taten und das Ausmaß des braunen Terrornetzwerkes. Die täglich hinzukommenden Details lassen hoffen, dass nachhaltig Maßnahmen getroffen werden, die geeignet sind, dass sich Vergleichbares nicht wiederholen kann.

Möge Allah die kaltblütig Ermordeten in seine Barmherzigkeit aufnehmen. Unser Beileid gilt allen voran den Hinterbliebenen. Möge Allah all ihnen Geduld und Kraft geben.

Vorstand
DITIB-Dachverband

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