Wir befinden uns nun in den letzten Tagen des Ramadan. Er war und ist uns ein Monat der Barmherzigkeit und des Segens. Als solcher hat er uns in den vergangenen Tagen nicht nur den Segen des Morgens beschert, als wir zum letzten Essen vor Fastenbeginn aufgestanden sind, sondern auch das Wohlgefühl des Teilens an den Iftar-Tischen und die Freude am Tarawih-Gebet. Er hat unsere Bittgebete um Vergebung wieder ihren Höchststand erreichen lassen, unserem Vermögen zum Danken wieder Leben eingehaucht und uns gelehrt, die Not der Bedürftigen zu begreifen. Gegen Ende dieses segenreichen Zeitabschnitts erreicht uns nun am Freitag, den 26.08.2011, in der Nacht auf Samstag, die Nacht der Bestimmung (türk. kadir gecesi; arab. laylatu l-qadr), von der uns der Koran wissen lässt, dass sie „Wohl bringender als tausend Monate“ sei und sie ein weiteres Mal zu erreichen uns mit Freude erfüllt. Diese Nacht ist eine heilige Nacht, in der sich die Himmelstore öffnen, Wohl und Heil sich verbreiten und Bittgebete sowie Vergebensersuche besonders erhört werden.
Den Wert der Nacht der Bestimmung begreifen und sich seinen Anteil von ihr holen wird uns erst dann möglich sein, wenn wir die unvergleichliche Botschaft des Koran zu begreifen suchen und auf den Pfaden wandeln, die er uns aufgezeigt hat. Denn das, was die Nacht der Bestimmung auszeichnet und sie zu einem Zeitabschnitt weit wertvoller als all die übrigen macht, ist der Umstand, dass die Herabsendung des Koran in ihr begann. Dieser kündet und lehrt uns die Existenz und die Einheit, das Einsein Gottes. Zudem ist er Wegweiser für die Rechtleitung der ganzen Menschheit und macht das Glauben und das gute Handeln zum Schlüssel für das ewige Glück und die Erlösung.
Die Nacht der Bestimmung ist also jene Nacht, da die letzte göttliche Offenbarung begann auf den Menschen zu treffen. Sich mit dem Koran zu beschäftigen, ihn zu treffen heißt nun nicht, ihn nur zu lesen oder seinem Vortrag zuzuhören, sondern seine Ge- und Verbote ernst zu nehmen und einen jeden von diesen in unsere Handlungen Eingang finden zu lassen. Der Koran gebietet die Gerechtigkeit zwischen den Menschen. Er gebietet uns ferner eine Sache oder Arbeit demjenigen anzuvertrauen, der auch qualifiziert ist hierfür. Er lehrt uns, uns nicht an den Rechten der Anderen zu vergreifen, sondern uns mit dem zufrieden zu geben, was wir in Händen haben. Er lehrt uns Liebe, Solidarität und geschwisterliche Verbundenheit. Und er lehrt uns Aufrichtigkeit. Zudem gebietet uns der Koran, uns unseren Propheten (s.a.w.) und seinen vorzüglichen Charakter zum Vorbild zu nehmen. Denn er weiß: erst ein guter Charakter und gute moralisch-ethische Werte werden die Gottesdienste und damit den Menschen vervollkommnen. Nicht umsonst gemahnt er daher die Menschen Wort zu halten, oder zum Wetteifern um das Gute, ferner Gaben und Lasten zu teilen, Arme, Bedürftige und die Waisen zu bedenken, das Anvertraute und die Rechte der Nachbarn wohl zu wahren, großherzig zu sein und immer ein Lächeln für die Menschen übrig zu haben, tugendhaft und sittsam zu sein, sich fern zu halten von schlechten Handlungen, Schamgefühl zu haben und nicht nach den Geheimnissen anderer Menschen zu stöbern – womit er auch gleichhzeitig die unabdingbaren Eigenschaften eines guten Muslims beschreibt. Er lässt die Menschen wissen, dass schlechte Angewohnheiten wie Obsessionen und Begierden, Hass und Groll, Klatsch und üble Nachrede, Eingebildetheit, Lüge und Doppelzüngigkeit ihnen fern sein und bleiben müssen.
Über diese heilige Nacht sagte unser Prophet (s.a.w.) dereinst: “Diejenigen, die die Nacht der Bestimmung begehen im Glauben an ihre Vorzüge und den Lohn hierfür von Allah erhoffend, werden ihrer vergangenen Sünden frei gesprochen.” (Buchari, Tarawih, 2; Muslim, Salat, 25) Er riet uns in dieser Nacht zu folgendem Bittgebet: „O Allah! Du bist der, der vergibt, so vergib auch mir.“ (Tirmizi, Daawat, 84) Wir sollten derartig außergewöhnliche Zeitabschnitte, die uns im Fluss des Lebens wieder inne halten lassen, als Gelegenheit begreifen, uns zu erneuern, uns selbst zur Rechenschaft zu ziehen und Selbtskritik zu üben. Dazu gehört, dass wir nun um Vergeben ersuchen für die Sünden und Fehler, die wir begangen haben und reumütig von diesen abkehren. In dieser Nacht sollten wir nach Wegen suchen, um Frieden zu finden mit uns selbst, mit unserem erhabenen Schöpfer und unseren Mitmenschen und ebenso Wege suchen, derart unser Leben sinnvoll zu gestalten. Nicht vergessen dürfen wir dabei, für uns selbst, für unsere Familie aber auch für die ganze Menschheit zu beten.
In diese Gebete gehören nun auch eingeschlossen Menschen auf der ganzen Welt, die ihr Leben unter schweren Bedingungen zu fristen genötigt sind. Wir sollten versuchen, ihre Armut und ihre Entbehrungen sowie ihr Leid zu lindern. In diesem Rahmen sollten wir nun dafür beten, dass unsere Geschwister in Afrika, die Opfer der anhaltenden Hunger- und Dürrekatastrophe sind und hier schwere Tage durchleben, dieselbigen alsbald wie möglich überwunden haben werden und ihnen damit geistig aber auch und gerade materiell-finanziell bei Seite stehen.
Meinen Gebeten, dass unser erhabener Herr uns unseren Anteil an dem Segen dieses hochspirituellen Monats und der in ihm verborgenen Nacht der Bestimmung schenken möge, schließen sich auch an meine Segenswünsche für die Nacht der Bestimmung - Allen voran für meine muslimischen Geschwister in Deutschland aber auch für die ganze islamische Welt. Möge die Nacht der Bestimmung der Menschheit Frieden, Eintracht und Glück bringen und allen Muslimen Wege der Vergebung eröffnen.
Prof. Dr. Ali Dere
Vorstandsvorsitzender der DITIB