Das rituelle Pflichtgebet, eines der fünf Säulen im Islam, muss als Pflichtgottesdienst im Laufe des Tages innerhalb bestimmter und vorgesehener Zeiten verrichtet werden. So lässt uns Allah, der Erhabene, im Koran wissen: "Das Gebet ist für die Gläubigen für bestimmte Zeiten vorgeschrieben." (Nisa 4/103) Unter normalen Umständen ist daher prinzipiell weder das vorzeitige Verrichten des Pflichtgebets zulässig noch sein Verspäten.
Der Koran verweist nur kurz und bündig auf die Zeiten der als Pflicht vorgegebenen fünf Gebete am Tag, so dass für ihre genauere Bestimmung die Erläuterungen des Propheten herangezogen werden müssen. (Bakara (2):238; Hud (11):114; Isra (17):78; Rum (30):17-18; Kaf (50):39-40; Insan (76):25-26) Die im Koran grob skizzierten Gebetszeiten werden dann näher umschrieben in der Tradition, der Sunna des Propheten, die ebenfalls zu den Hauptquellen der Rechtsfindung im Islam gehört. Hier finden sich praktische, d.h. vom Gottesgesandten vorgelebte sowie gesprochene Hinweise. Diese Hadithe des Propheten, die sich mit den Gebetszeiten beschäftigen und sie in der Folge näher bestimmen, haben dabei als Maß astronomische und atmosphärische Erscheinungen, die dadurch entstehen, dass sich die Erde um die eigene Achse dreht. So ist hier die Rede von der Dämmerung, die morgens am östlichen Himmel heraufzieht (fecr); oder vom Aufgang der Sonne (tulu'); vom Mittag, bzw. davon, dass die Sonne, nachdem sie mittags ihren Zenit erreicht hat, sich gen Westen neigt (zeval); oder vom Mittagsschatten (fey-i zeval), wenn die Schatten dann doppelt oder dreifach so lang sind als zur Mittagszeit; vom Sonnenuntergang (gurub) und schließlich vom Untergang der Abendröte am westlichen Himmel (gaybubet-i şafak) (Vgl. hierzu: Tirmizi, Salat, 1; Ebu Davud, Salat, Hadis Nr. 393-394, 2; Muslim, Mesacid ve Mevadiu's-Salat, 31, Hadis No: 610, 611, 612, 613, 614).
In Breiten, in denen diese in der Prophetentradition beschriebenen Zeiten sich ohne Probleme manifestieren, werden die Gebetszeiten auch nach diesen Definitionen bestimmt. In Breiten hingegen, in denen diese Zeitabschnitte sich nur teils oder überhaupt nicht manifestieren, werden sie, nach inzwischen übereinstimmender Meinung einzelner Rechtsgelehrter sowie von Gelehrtenräten, geschätzt. In einem Hadith legt uns der Prophet nahe, in solchen Fällen die Gebetszeiten nach Ermessen zu schätzen (s. Muslim, Kitabu'l-Fiten ve Eşratu's-Saat, 20).
Nehmen wir als Grundlage für die Berechnung der Zeit für das Nachtgebet einen Sonnenstand 17° unter Horizont und für die Berechnung der Zeit für das Morgengebet eine Sonne, die sich um 18° dem Horizont genähert hat, manifestieren sich in den Gebieten vom Äquator bis etwa zum 48. Breitengrad die Gebetszeiten entsprechend der astronomischen und atmosphärischen Erscheinungen, wie sie in der Prophetentradition und in den Werken islamischer Jurisprudenz beschrieben werden. Ab dem 49. Breitengrad stellen sich dann in den Sommermonaten mit zunehmender Nähe zum Pol die Hinweise auf die Zeiten für die Morgendämmerung sowie für das Nachtgebet nicht ein. Ab dem 66. Breitengrad geht dann in den Sommermonaten die Sonne überhaupt nicht mehr unter, bzw. in den Wintermonaten nicht mehr auf. Ungefähr zwischen dem 45. und dem 48. Breitengrad werden die Zeiten zwar manifest, doch stellt sich nach der Berechnung, die, wie oben beschrieben, von einem Sonnenstand bei 17° bzw. 18° ausgeht, insbesondere in den Sommermonaten, die Zeit für das Nachtgebet sehr spät und die Morgendämmerung dementsprechend sehr früh ein. Ein Umstand, der Muslimen, die in diesen Breitengraden leben und ihre Pflichtgebete verrichten sowie das Fastengebot einhalten, Probleme oder zumindest Erschwernisse bereitet.
In den Jahreszeiten, in denen die Zeiten nicht manifest werden, muss, wie auch im oben genannten Hadith beschrieben, zwangsläufig die Methode des Schätzens Anwendung finden um diese zu bestimmen. Eine andere als diese Methode gibt es nicht, um in diesen Fällen die Gebetszeiten zu bestimmen. Denn die fünf Pflichtgebete am Tag (innerhalb von 24 Stunden) sind ein Befehl Gottes. Die astronomischen und atmosphärischen Erscheinungen, nach denen bestimmt wird, wann im Laufe des Tages dieses Gebot zu erfüllen ist, weisen, wenn sie sich dann manifestieren, darauf hin, dass die Zeit angebrochen ist und das Gebot nun erfüllt gehört. Stellen sich diese Hinweise nicht natürlich ein, ist es aus religiöser Sicht eine Notwendigkeit, die Zeiten zu schätzen .
Daher haben Islamgelehrte und unterschiedliche wissenschaftliche Einrichtungen eine Reihe von Methoden zur Schätzung der Zeiten, sowie allgemeine Lösungen entwickelt. Bis heute hat man sich jedoch nicht auf eine dieser Methoden einigen können. Wünschenswert und aus Sicht der in diesen Breiten lebenden Muslime günstig wäre eine Einigung in der Methode des Schätzens.
Das Amt für Religiöse Angelegenheiten, Diyanet, ist von jeher bestrebt, diese Einheit zu verwirklichen und wird auch weiterhin ihre wohlwollenden und aufrichtigen Bemühungen auf dem Wege zu dieser gewünschten Einheit fortsetzen. Bis zur Verwirklichung einer solchen Einheit wird die Diyanet jedoch ihre Kalender und Übersichtstafeln, die die Gebetszeiten anzeigen, nach der Maxime des Islam "Etwas zu erleichtern und nicht zu erschweren" sowie nach den Rechtsmethoden der Bevorzugung der vereinfachenden Methode (istihsan) und der Berücksichtigung des Nutzens, bzw. des allgemeinen Interesses (maslahat) berechnen, wobei sie auch die Ergebnisse berücksichtigt, zu denen die Umsetzung ihrer früheren Beschlüsse geführt hat, sowie andere praktische Lösungen , den Nutzen und das Interesse der Muslime, die Bedingungen und Umstände in der jeweiligen Region und die Bedürfnisse und die Probleme der hier lebenden Arbeitnehmer, Schüler und Studenten, sowie aller anderen Gruppen.
Die Diyanet ist sich bewusst darüber, dass den Problemen und Erschwernissen, denen Muslime in diesen Breiten bei der Erfüllung ihrer Gottesdienste begegnen, nicht dadurch Abhilfe geschaffen werden kann, indem hier die Zeiten für die Morgendämmerung sowie für das Nachtgebet nur in den Jahreszeiten geschätzt werden, in denen die Hinweise für die entsprechenden Zeiten nicht manifest werden. Erfahrungen aus einem halben Jahrhundert, eine über lange Jahre hinweg angewandte Praxis sowie Ergebnisse unterschiedlicher Studien sind es, die uns zu dieser Erkenntnis gelangen lassen. Und dies zeigt uns, dass eine Ausweitung der Schätzung der Zeiten für die Morgendämmerung und das Nachtgebet, bzw. die Ausweitung ihrer Anwendung, ein dringendes Bedürfnis ist.
Aus diesem Grund und um die Erschwernisse, die in diesen Breiten auftreten, zu beheben und somit die gottesdienstlichen Handlungen der Gläubigen zu erleichtern, hat der Oberste Religionsrat der Diyanet, auch unter Berücksichtigung der Probleme, die die frühere Praxis mit sich gebracht hat, entschieden, für das Nachtgebet die Methode des Schätzens, entsprechend den Beschlüssen der Brüsseler Konferenz, ab dem 45. Breitengrad generell anzuwenden. Für die Berechnung der Morgendämmerung wurde jedoch beschlossen, die Methode des Schätzens nur in den Sommermonaten (März-September) anzuwenden, da die Abenddämmerung astronomisch gesehen in Symmetrie steht zur Morgendämmerung und somit in den Sommermonaten die Fastenzeiten beeinträchtigt und hier für Engpässe sorgt.
In diesem Sinne hat man sich entschieden, in Anlehnung an die Beschlüsse der Brüsseler Konferenz, die Methode des Schätzens ab dem 45. Breitengrad Anwendung finden zu lassen und die Zeit für das Nachtgebet zu bestimmen durch Hinzufügung von 1 Stunde 20 Minuten an das Abendgebet. Für die Monate jedoch, in denen mit dieser Berechnung der Zeitpunkt für das Nachtgebet außerhalb des ersten Drittels der Nacht, wie sie nach islamischem Rechtsverständnis definiert ist, liegen würde, wird der Zeitpunkt des Nachtgebets so festgelegt, dass dieses erste Drittel nicht überschritten wird. Damit werden die Hadithe des Propheten berücksichtigt, in denen es heißt, dass die Zeit für das Nachtgebet im ersten Drittel der Nacht liegt. (Muslim, Mesacid, 176, 177 (613); Nesai, Mevakit 12 (I/258); Tirmizi, Salat 1 (113), Hadis Nr: 147, Salat, 115 (152); Ibn Mace, Salat, I (668); Ebu Davud, Salat 2 (393)
Die Zeit der Morgendämmerung ist nur problematisch im Zusammenhang mit dem Gottesdienst des Fastens. Daher wurde die Zeit der Morgendämmerung - mit der in den Sommermonaten Erschwernisse verbunden sein können - nach der Methode der Schätzung berechnet und hierzu in den Sommermonaten dem Zeitabstand zwischen dem Abendgebet und dem Nachtgebet, auf Grund der Neigung, 10 Minuten hinzugefügt und diese Zeit mit dem Sonnenaufgang verrechnet.