Die Freude und Aufregung, die in unserem spirituellen Leben mit der Ankunft der segensreichen drei Monate begann, ist mit den Erdbeben, die in der Türkei und in Syrien große Zerstörungen angerichtet haben, dem Schmerz und den Tränen gewichen. Mit dieser großen Katastrophe wurden unzählige Familien ausgelöscht oder zerstreut und viele Hoffnungen unter den Trümmern zurückgelassen. Ich biçtte den erhabenen Allah, all unseren untröstlichen und tränenreichen Geschwistern, die ihre Liebsten verloren haben, die Besonnenheit und Selbstbeherrschung unseres Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm), der seine Mutter, Frau, Verwandten, Freunde und sechs Kinder zu Grabe getragen hat, sowie die Entschlossenheit und den Willen, das Leben dort fortzusetzen, wo es aufgehört hat, zu schenken.
Wir nähern uns ein weiteres Mal dem Ende des Monats Ramadan mit all seinen bitteren und süßen Momenten. Ab Freitag, dem 21. April, feiern wir das Fest des Fastenbrechens/Ramadanfest, was auch als eine dreitägige Generalprobe des paradiesischen Glücks angesehen wird. Bedauerlicherweise müssen wir feststellen, dass wir unsere Feste in diesem Jahr bitterer und unvollständiger erleben werden als in den vergangenen Jahren. Dieses Jahr werden wir uns vor unseren Eltern und Älteren so verneigen, als wäre es das letzte Fest, das wir mit ihnen gemeinsam verbringen. Während wir unsere Kinder und Enkelkinder umarmen, drücken und sie küssen, werden wir uns an die vielen Mütter und Väter erinnern, die ihre Kinder bei dem Erdbeben verloren haben und deren Tränen versiegt sind. Wir werden den Wert unserer Liebsten auf eine andere Art und Weise verstehen, wir werden sie an diesem Ramadanfest aufrichtiger umarmen. Wir werden an diesem Ramadanfest besser erkennen, wie einfach und wertlos Groll, Verbitterung, Missmut und Feindschaft sind.
Wie Sie wissen, unterscheiden sich die Toten- und Festtagsgebete von anderen Gebeten durch die Takbirāt, die zusätzlichen islamischen Gebetsformeln, in diesen Gebeten. Die Bedeutung ist folgende: „Allah-u akbar/Allah ist der Größte!”, auch wenn wir traurig sind, und „Allah-u akbar/Allah ist der Größte!”, auch wenn wir glücklich sind. Die Botschaft ist klar und unzweideutig: Allah, der Allmächtige, ist mit uns in unserem Schmerz und in unserer Freude. Der allmächtige Allah, der alles sieht, sieht und bewertet sowohl die Tränen, die aus unseren Augen fließen, als auch das Lächeln auf unseren Gesichtern.
Der Monat Ramadan war eine Zeit des spirituellen Gewinns, die unser Verantwortungsbewusstsein gestärkt, unseren Willen diszipliniert und unser Leben mit den schönen Werten, die er mit sich brachte, verschönert hat. Der Monat Ramadan, dieser gesegnete „Gast“, der einen Monat lang in unseren Herzen zu Besuch war, war auch eine einzigartige Schule, die Dutzende von Lehren für uns enthielt. Der Ramadan lehrte uns vor allem das „Bewusstsein der Hingabe“. Hingabe bedeutet, den allmächtigen Allah, den Eigentümer des Lebens, in den Mittelpunkt unseres Lebens zu stellen und seine Befehle bedingungslos zu erfüllen. Hingabe bedeutet ferner, sogar auf unsere erlaubten Grundbedürfnisse innerhalb der von Allah gesetzten Grenzen und wiederum um Allahs willen zu verzichten.
Der Ramadan hat uns die Einheit Gottes („Tauhīd“) gelehrt: Die Tatsache, dass die in „einem“ Topf gekochte Speise von den um „einen“ Tisch herum wartenden Menschen mit dem ausgeruften Gebetsruf als Aufruf des “Einen” gegessen wird, war in der Tat eine großartige Lehre des „Tauhīd“. Der Ramadan lehrte uns die Einheit („Wahda“). Mit den Gebeten, die wir Seite an Seite in derselben Gebetsreihe, Schulter an Schulter, verrichten - ebenbürtig wie die Zähne eines Kammes und ineinandergreifend wie die Ziegel eines Gebäudes - lehrte uns der Ramadan, „wir“ zu sein, indem wir alle ich-du-er-sie Divergenzen ablehnen.
Der Ramadan hat uns gelehrt, mitzufühlen. Der Ramadan lehrte uns, an die Opfer, Unterdrückten, Bedürftigen, Hilflosen und Waisen zu erinnern. Der Ramadan gab uns die Gewissheit, Freude in den Augen und Bittgebet auf den Lippen vieler Mütter und Väter zu sein, die auf die Wege blickend und das Klingeln an der Tür abwartend nach den Tagen sehnten, an denen ihre Kinder mit vollem Magen schlafen.
Der Ramadan lehrte uns auch die richtige Definition des Fastens: „Fasten“ bedeutet nicht, auf Nahrung oder Wasser zu verzichten, sondern unsere Seelen vom himmlischen Tisch zu nähren und zu sättigen. Der Ramadan lehrte uns, dass wir uns mit dem lebensspendenden Atem des Korans wiederbeleben sollten. Während wir das Glück erlebten, hunderte von Lektionen und Ratschlägen aus 114 verschiedenen Menüs des Korans als ein von Allah geschenkter himmlischer Tisch zu erhalten, lehrte uns der Ramadan auch, dass der Koran nach wie vor ein hochaktuelles Buch ist, das trotz der vierzehn vergangenen Jahrhunderte die Probleme von heute erhellt.
Der Ramadan hat uns auch gelehrt, „festzuhalten“. Während wir dachten, wir würden fasten, wurde uns klar, dass das Fasten in Wirklichkeit unsere Hände und Füße, Augen und Ohren, Zunge und Lippen festhält. Der Ramadan lehrte uns auch, wie kostbar die Zeit ist. Der Ramadan lehrte uns, wie wichtig eine Minute, ja sogar eine Sekunde ist, und dass ein Muslim äußerst pünktlich sein sollte... Der Ramadan erinnerte uns daran, dass die gewinnbringendste Investition mit Sadaqatu´l-Fitr, Zakat, Spenden und Wohltätigkeit die Investition in das Jenseits ist, die sich eins zu siebenhundert (1:700) auszahlt.
Möge der erhabene Allah uns aus all diesen Erfahrungen Lehren ziehend uns zu einem seiner Diener machen, dessen restliches Leben so gesegnet wie der Ramadan gestaltet wird, dass somit sein Jenseits so freudig wie am Festtag sein kann. In diesem Sinne und mit diesen Gebeten gratuliere ich allen voran unseren in Deutschland lebenden Geschwistern und all unseren muslimischen Geschwistern inständigst zum Ramadanfest. Ich bitte den erhabenen Allah darum, dass die Feste als Generalprobe des paradiesischen Glücks auch Anlass zu ewigen Festen sein mögen.
Dr. Muharrem Kuzey
DITIB Bundesvorsitzender