Alltags-Diskriminierungen: Erkennen, benennen und konsequent eindämmen

Köln, 19.08.2013: Unter dem Titel „Zweiter Gemeinsamer Bericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes und der in ihrem Zuständigkeitsbereich betroffenen Beauftragten der Bundesregierung und des Deutschen Bundestages“ (Juli 2013) wurde unlängst eine Studie zu Diskriminierungen im Alltag vorgestellt. Dieser vorliegende gemeinsame Bericht der Antidiskriminierungsstelle zeigt gravierende, zentrale Missstände auf, wo dringender gesellschaftlicher, politischer und auch rechtlicher Handlungsbedarf besteht.

Die Türkisch-Islamische Union (kurz: DITIB) als deutschlandweit größte muslimische Glaubensgemeinschaft und Migrantenorganisation stets auf Entwicklungen und Missstände in ihrem Wirken, in verschiedenen Tätigkeitsbereichen und Aktivitätsfeldern hingewiesen und entsprechenden Handlungsbedarf angemahnt. Die Feststellung, dass das Diskriminierungsrisiko aufgrund der ethnischen Herkunft durch eine islamische Religionszugehörigkeit noch verstärkt wird (Schmidt 2006, S. 84 f.), hat über die Jahre hinweg an Aussagekraft hinzugewonnen. Dies spiegelt sich auch in den Lebensrealitäten und den Erfahrungen von Migranten und Muslimen, aber auch ihrer Organisationen wider.

Prof. Dr. Izzet ER, DITIB-Bundesvorsitzender  und Prof. der Theologie und Religionssoziologie: „Von diesem Bericht geht ein klares Signal gegen den alltäglichen Rassismus und die mehrdimensionale Diskriminierung in der Gesellschaft aus. Es ist auch ein klares Signal an Politik, Behörden und Ämter, aber auch deren Vermittler und Akteure, dem entgegen zu wirken. Unter diesem Aspekt sind die aktuellen Vorwürfe an die Polizei im noch ungeklärten Zwischenfall am Köln-Bonner Flughafen besonders brisant. Die Anteilnahme und der Aufruhr um diesen Fall zeigen, wie individuelle Diskriminierungserfahrungen in eine kollektive Erfahrung einmünden und längst überwunden geglaubte Ängste, Befürchtungen und Spannungen sich darüber immer wieder reproduzieren. Diese Reproduktion erlebter kollektiver Traumata sind beispielsweise in besonders tragischer Weise verbunden mit den Übergriffen in Solingen, Mölln, Rostock, Hoyerswerda, der Ermordung von Marwa El-Sherbini, dem „Dönermord“-Begriff  und der NSU-Terrorserie.

So wollen wir die Opfer jeglicher Diskriminierungen ermutigen, aktiv dagegen vorzugehen. Denn Diskriminierung ist keine Bagatelle und sie wirkt nachhaltig und schädigend auf Individuum und Gesellschaft gleichermaßen. Für viele junge Migranten vermitteln erste, große Ausgrenzungserfahrungen recht früh schon "Du gehörst nicht dazu". Die Hinnahme der Diskriminierung, aber auch Resignation und Rückzugstendenzen, die dieser Bericht bei den Betroffenen ebenfalls feststellt, sind ein ernstzunehmender Warnhinweis. Insbesondere Schulen und Betriebe sind keine rechtsfreien Räume, in denen Diskriminierungen aus Angst vor weiteren gravierenden Nachteilen hingenommen werden müssen.“ 

Zusammengefasst gehören Diskriminierungen aufgrund verschiedener Indikatoren  offensichtlich immer noch zum Alltag. Der Bericht dokumentiert ferner, dass Diskriminierungserfahrungen sich durch verschiedene Bereiche des Lebens ziehen: Kindergärten, Schulen, Ausbildungsstätten und Arbeit standen dabei im besonderen Fokus. Offensichtlich ereignen sich Diskriminierungen weit früher und subtiler als bisher angenommen. Die zusammengeführten Ergebnisse verschiedener Studien zeigen, dass ein gesamtgesellschaftliches Umdenken und entsprechendes Handeln notwendig ist, welches über das reine Erkennen und Benennen hinausgehen muss.

 

 

Zweiter Gemeinsamer Bericht: Studienergebnisse im Detail


In einer repräsentativen Studie zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wurden erhebliche rassistische und islamfeindliche Tendenzen ermittelt. Dies lässt einen Rückschluss auf ein bestimmtes gesellschaftliches Klima gegenüber Migranten und Muslime zu, das sich bereits sehr früh auch negativ auf das Verhalten gegenüber Migranten und Muslime auswirkt. Eine positive Prognose, dass dieser Entwicklungsprozess aufgebrochen und eingedämmt werden könnte, um das gesamtgesellschaftliche Klima zukunftsfähig zu machen, bedarf politischer, gesellschaftlicher, aber auch rechtlicher Mechanismen und Regularien. Diese sollten, wenn schon nicht präventiv, so doch zumindest so früh greifen, um den individuellen und gesellschaftlichen Schaden erst gar nicht entstehen zu lassen.

Der empirisch nachgewiesene Zusammenhang zwischen negativen Kollektivannahmen über „die Muslime“ und die daraus resultierende individuelle Diskriminierungserfahrung wird in ähnlichem Zusammenhang auch für rassistische Einstellungen zugrunde gelegt. So ist laut Studie grundsätzlich festzuhalten, dass in Bezug auf Diskriminierungen vor allem die ethnische Herkunft Gegenstand der Ausgrenzungen - bisweilen sogar Anfeindungen- ist, aber auch Sprache, Hautfarbe, Aufenthaltsstatus und Religion. Diese mehrdimensionale Diskriminierung im Bildungsbereich findet ihre Fortsetzung im Ausbildungs- und Berufsleben und hat damit nachhaltig und tiefgreifend Eingang in die deutsche Lebens- und Gesellschaftsrealität.


Zusammenfassung SCHULEN: 

So wird beobachtet, dass es bereits in der Schule bestimmte Stereotype in Bezug auf männliche Schüler, aber auch weibliche Schülerinnen mit Migrationshintergrund gibt. Generell gilt: Wenn Schüler ständig benachteiligt werden, sinken Motivation, Leistung sowie die Identifikation mit den Bildungszielen. Dies kann langfristig die erfolgreiche Bildungsteilhabe verhindern. Die Diversität des Lehrkörpers spiegelt die zunehmende Heterogenität der Schülerschaft nur unzureichend wider. So sind laut Studie in den Schulen Lehrer mit Migrationshintergrund unterrepräsentiert und scheitern an „vorgeschobenen“ Hürden bzw. fadenscheinigen Gründen, sodass sich insgesamt nicht ausreichend mit dem Thema Vielfalt an der Schule auseinandergesetzt wird und Diskriminierungsproblematiken zu selten thematisiert werden, die hier folgend kurz und exemplarisch umrissen werden.

  • Als sprachliche Diskriminierung stellt der Bericht (Seite 16) fest: „Besonders kritisch sieht die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in diesem Zusammenhang das Verbot an einigen Schulen, in der eigenen Muttersprache zu sprechen. Deutsch als Unterrichtssprache sollte genügen, weitergehende Verbote stehen der Förderung der kulturellen Vielfalt und Identität entgegen.“
  • Lehrer können diskriminieren, indem sie diesen Kindern mit stereotypen Erwartungen begegnen, sie nicht in Schutz nehmen, ihre Interessen und Beschwerden nicht ernst nehmen oder ihnen alltägliche Hilfen verweigern. Da die Leistungsbewertung stets kontext- und personengebunden ist, steigt das Diskriminierungsrisiko durch Hervorhebung sichtbarer Merkmale und deren kausale Verknüpfung mit physischen, sozialen, herkunftsbezogenen, kulturellen und religiösen Merkmalen.
  • Bezüglich des Religionsunterrichts in den Schulen empfanden es Eltern als Benachteiligung, dass muslimische Kinder an staatlichen Schulen keinen Religionsunterricht erhalten, sondern stattdessen das Pflichtfach Ethik belegen müssen.
  • Auch in der Ausübung ihrer Religion können sich besondere Benachteiligungen ergeben, insbesondere durch die vielfach mangelnde Akzeptanz von Schülerinnen mit Kopftüchern. Wie Studien zeigen, werden Leistungen von Schülerinnen mit Kopftüchern häufig in der Leistungsbewertung unterschätzt und selbige weniger gefördert. Dies setzt sich später in Ausbildung und Arbeit fort.
  • Rassistische Formulierungen in Schulbüchern, die nachhaltig diskriminierend wirken, indem „der Islam in Schulbüchern noch immer vereinfacht als festes, rückständiges Regelsystem dargestellt wird. Menschen muslimischen Glaubens werden dabei als vormodern und daher zu Europa nicht passfähige Andere “ (S. 3) dargestellt. Darüber hinaus wird der Islam in vielen Schulbüchern als bedrohlich gedeutet (Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung 2011, S. 13).
  • Sowohl Stereotype, als auch Diskriminierungen werden an Schulen aus Sicht von Experten selten thematisiert oder hinterfragt, noch seltener geahndet. Sie sind auch kaum Forschungs- und Ausbildungsgegenstand.

Als Fazit wird ein Fehlen von professioneller Beratung und einem systematischen Beschwerdemanagement in Bezug auf Diskriminierung in der Schule festgestellt. Bestehende rechtliche Möglichkeiten erweisen sich häufig als nicht geeignet, um Beschwerden vorzubringen bzw. sich gegen Diskriminierung im schulischen Bereich zur Wehr zu setzen. Lösungsansätze stoßen häufig auf ungeahnten Widerstand oder prallen daran schlichtweg ab.


Zusammenfassung ARBEIT:

Die Problematik von Zuschreibungen und Stereotypen ist Gegenstand der Studie von Gestring/Janßen/Polat (2006). Bei Interviews mit für die Auswahl mitverantwortlichen Personen, sogenannten „Gatekeepern“, die z.B. über die Vergabe bzw. Vermittlung von Arbeits- oder Ausbildungsplätzen entscheiden, ist aufgefallen, dass sie von kulturellen Stereotypen und Vorurteilen gegenüber Frauen und Männern türkischer Herkunft gelenkt sind. Sie schreiben denen u. a. generell mangelnde Integrationsbereitschaft, mangelnde Arbeitsmoral oder Unzuverlässigkeit zu.

Ferner stellt die Studie fest, dass es trotz des Rechts auf freie Religionsausübung zu Konflikten am Arbeitsplatz kommen kann, wenn Muslime während der Arbeitszeit beten oder an religiösen Feiertagen Urlaub nehmen wollen (Expertengespräche ADS).

Die Vorbehalte wechseln dabei nach Geschlecht und Alter, wobei insbesondere Frauen, die ein Kopftuch tragen, die stärkste Ausgrenzung erleben. Die Mehrheit der „Gatekeeper“ lehnt eine Beschäftigung dieser Frauen explizit ab.


Zusammenfassung FRAUEN:

Beschwerden im Bereich Zugang zum Erwerbsleben betrafen häufig kopftuchtragende Musliminnen, die in Anknüpfung an ihre Religionsausübung, ethnische Herkunft oder Geschlecht diskriminiert wurden. Generell ist ein hohes Diskriminierungsrisiko bei kopftuchtragenden Musliminnen, die einen Arbeits- bzw. Ausbildungsplatz suchen, festzustellen. Dies unabhängig von der Qualifikation der Frauen, so dass sowohl Frauen mit hoher (Universitätsabschluss) als auch niedriger Qualifikation betroffen sein können.

In Folge dessen wird berichtet, dass Frauen, die ein Kopftuch tragen, bei der Arbeitssuche häufig resignieren oder versuchen, eine Arbeit im Bereich des ethnischen Gewerbes zu finden, um dem Ausschluss vom Arbeitsleben zu entgehen.

„Für kopftuchtragende Musliminnen können auch die landesrechtlichen Verbote religiöser Symbole - wie im Schulwesen - negative Auswirkungen haben. So ist denkbar, dass sich diese Regelungen bis in den privatwirtschaftlichen Bereich hinein auswirken und dort jenseits ihres eigentlichen Wirkungsbereichs als Legitimation für den Ausschluss kopftuchtragender Frauen angewandt werden.“ Die direkten Benachteiligungen von Muslimen erfolgen zum Teil aufgrund rassistischer, antimuslimischer Ressentiments oder verbreiteter Stereotype. Auch die negativ konnotierte Darstellung des Islam in der medialen Berichterstattung, die kausale Verknüpfung Kopftuch=Unterdrückung oder Kopftuch=Rückständigkeit trägt dazu bei.

Insgesamt fließen negativ konnotierte öffentliche Meinungsbilder des Islam in Argumentationen und Motivationen für Benachteiligung ein und steigern so das Risiko einer Diskriminierung.

Darüber hinaus werden Musliminnen eine besondere „Familienorientierung“ und „besonders hohe Ausfallzeiten wegen vieler Kinder“ unterstellt (nach Färber et al. 2008, S. 105).

Alles in allem kommen hier auch Verhaltensformen statusbedingter und milieuspezifischer Diskriminierung zum Tragen, ebenfalls gesellschaftliche Ressentiments gegenüber bestimmten Gruppen, ethnische Herkunft, die Religion, das Geschlecht oder das Alter. Diese Indikatoren können miteinander verwoben sein, sich im Einzelfall gegenseitig verstärken und im Zusammenspiel verschiedener Merkmale potenzieren.

Anlass zu Mobbing, Belästigung und Diskriminierung an Schule und Arbeitsplatz sind ein ernsthaftes und verbreitetes Problem hinsichtlich aller AGG-Merkmale (AGG: Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) und haben damit auch rechtliche Relevanz.


Schlussfolgerungen

So sind als Feststellungen und Anforderungen gegen Diskriminierungen im Wesentlichen festzuhalten:

  • Muttersprachenverbote an Schulen sind als diskriminierend einzustufen und entsprechend dem Diskriminierungsverbot zu beheben.
  • Rassistische Formulierungen in Schulbüchern und Lehrinhalten sind herauszuarbeiten und entsprechend zu beseitigen.
  • Lehrer bzw. Schulen müssen bezüglich Diskriminierungen auf der Wahrnehmungs- und Handlungsebene stärker geschult und bereits in der Ausbildung hingewiesen werden.
  • Mit Einführung des muslimischen Religionsunterrichts in den Schulen kann Diskriminierungen in vielerlei Hinsicht präventiv begegnet werden, weil dadurch Akzeptanz auch bei nichtmuslimischen Schülern, aber auch Lehrern hergestellt und direkt vermittelt werden kann.
  • Das Kopftuch darf nicht zu einem Diskriminierungsfaktor erhoben werden. Dies schließt landesrechtliche und arbeitsrechtliche Regelungen ebenfalls ein.
  • Aktive und bewusste Arbeit gegen (kulturelle/religiöse) stereotype Zuschreibung und Rollenerwartungen sind in entsprechenden Schulungen und Workshops für Mitarbeiter des Bildungsapparates zu vermitteln.
  • Die Diversität der Schülerschaft und Gesellschaft muss sich langfristig auch in der Lehrerschaft widerspiegeln. Zugangserschwernisse sind entsprechend zu benennen.
  • Diskriminierungen an Schulen müssen Forschungs- und Ausbildungsgegenstand werden, um verlässliche Daten zu haben und entsprechende Konsequenzen herauszuarbeiten.
  • Bestehende rechtliche Möglichkeiten und die Aufklärung diesbezüglich sind zu stärken, damit das Antidiskriminierungsgesetz de facto Anwendung findet.
  • Professionelle, unabhängige Beratungsstellen mit systematischem  Beschwerdemanagement sind einzurichten, um auch die Durchsetzung entsprechender Regularien und Gesetzte sicher zu stellen. In Bezug auf Diskriminierungen in verschiedenen Lebensbereichen sind entsprechend verbindliche Hilfestellungen und Lösungsansätze zu unterbreiten.

 

Prof. Dr. Izzet ER dazu ergänzend: “Minister Gutram Schneider sagte unlängst, Integrationskultur brauche auch Integrationsstruktur. Mit dieser Studie wurden systemimmanente – also dem System selbst innewohnende- Schwächen und Diskriminierungen im Umgang mit Migranten und Muslimen festgestellt. In einigen Anliegen, beispielsweise dem islamischen Religionsunterricht,  sind erste wichtige Schritte unternommen worden. In anderen Bereichen sind nach wie vor Diskriminierungen festzustellen, die stillschweigend hingenommen werden, beispielsweise den diskriminierenden Inhalten von Lehrbüchern oder dem Muttersprachenverbot an Schulen.

Diese Studie gibt insofern Anlass zu Hoffung, dass hier neben der reinen Befragung von Betroffenen, auch Experten befragt und verschiedene Studien zusammengeführt wurden.  Denn Diskriminierungen sind nicht nur kontextgebunden, sondern  darüber hinaus verwoben mit politischen, medialen, gesellschaftlichen und strukturellen Rahmenbedingungen. Dies macht der Zweite Gemeinsame Bericht sehr deutlich.

Wir hoffen, dass damit endlich auch die Betroffenen von Diskriminierungen nicht nur ernst genommen werden, sonder auch ein Umdenken zugunsten dieser Betroffenen erfolgen wird. Denn dies ist im Sinnen einer gemeinsamen Zukunft bitter nötig. Wie sonst sollte sich ein gesellschaftlicher Zusammenhalt herstellen, wenn dies nicht bereits in den Kindergärten und Schulen realisiert würde. . Diskriminierung muss hier aktiv und bewusst entgegnet werden.  Denn dies sind die wichtigsten Stätten, in denen Integration als ein gesamtgesellschaftlicher Prozess der Einswerdung in Vielfalt und Pluralität sich vollzieht. Denn wie heißt es: früh übt sich…“



Pressestelle
DITIB-Dachverband

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