DITIB ruft Bundeskanzlerin zum Eingreifen bei "Vermisst"-Kampagne auf

Sehr geehrte Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel,

wie auch aus unserer Korrespondenz mit dem Bundesinnenministerium und den Medienberichten zu entnehmen, gibt es nun schon seit Monaten eine mittlerweile offene Auseinandersetzung zwischen dem Bundesinnenministerium und den muslimischen Religionsgemeinschaften im Rahmen der „Initiative Sicherheitspartnerschaft“ über Form und Inhalt der Zusammenarbeit, die mittlerweile zum Austritt der DITIB, VIKZ, ZMD und IGBD aus dieser Kooperation geführt hat. Anlass waren unüberbrückbare Differenzen bezüglich der vom Bundesinnenministerium vorbereiteten Plakat- und Postkartenaktion „Vermisst“.
 

Von Anfang an hatte sich das Bundesinnenministerium wenig zugänglich für die Bedenken der muslimischen Religionsgemeinschaften gegenüber der „Vermisst“-Aktion gezeigt. Vergangenen Donnerstag (20.9.2012) hat es dann die Plakataktion, die Teil der Kampagne ist, zwar verschoben, aber angekündigt, die restliche Kampagne, so auch die Verteilung von Postkarten, planmäßig fortzuführen.

Nun wählte das Bundesinnenministerium die Keupstraße in Köln-Mülheim, an der die Terrorzelle NSU 2004 eine Nagelbombe gezündet und 22 Menschen verletzt hatte, für den Start ihrer Kampagne „Vermisst“ aus. Das BMI beginnt also seine Aktionen, mit der es nach eigenen Angaben behauptet, der „Radikalisierung von Jugendlichen und jungen Menschen“ entgegen treten zu wollen, an einem Ort und bei Betroffenen, die selbst Ziel eines terroristischen Anschlags waren.

Als Türkisch-Islamische Union DITIB bitten wir Sie, Frau Bundeskanzlerin, darum, sich persönlich mit den Auswüchsen der „Vermisst“-Aktion des Bundesinnenministeriums zu befassen, bei dem das BMI jeden Maßstab der Machbarkeit und jegliche Sensibilität verloren zu haben scheint. Insbesondere halten wir es auch für einen Affront all denjenigen gegenüber, die bei der Gedenkfeier für die Opfer des NSU-Terrors im Februar glaubhaft ihre persönliche Betroffenheit und Anteilnahme zum Ausdruck gebracht hatten.

In der Kölner Keupstraße waren im Auftrag des BMI an ortsansässige Geschäftsleute durch eine Fremdfirma Pakete mit Postkarten, auf denen die bekannten Motive aus der „Vermisst“-Aktion abgebildet sind, abgeliefert worden. Dass sich unter den Belieferten auch Geschädigte aus der in der Keupstraße von der NSU gezündeten Nagelbombe befanden, führt die Instinktlosigkeit und fehlende Sensibilität des Ministerium nur zu deutlich vor Augen.

Dass aber ausgerechnet die Kölner Keupstraße als Startort ausgewählt wurde, erweckt den Eindruck, hiermit eine versteckte, aber klare Botschaft an die Muslime im Land senden zu wollen. „Wir lassen uns von niemandem vorschreiben, wie wir unsere Aktionen durchführen“, erscheint hier als Haltung, die auch zu dem Restbild passt, das das Bundesinnenministerium im Rahmen der „Initiative Sicherheitspartnerschaft“ abgegeben hatte. Diese hartnäckige Haltung hatte dann auch dazu geführt, dass vier muslimische Verbände die Sicherheitspartnerschaft verließen.

Obwohl mittlerweile nur noch zwei Organisationen in der Sicherheitspartnerschaft verblieben sind, sieht das BMI darin keinen Grund, seine Haltungen zu überdenken, geschweige denn seine Kampagne zu stoppen. Das unverminderte Fortführen der „Vermisst“-Kampagne lässt auch den Schluss zu, dass die muslimischen Verbände für die Sicherheitspartnerschaft als reine Kulisse und nicht als Partner benötigt wurden.

Dieser misslungene Start der Kampagne wirft Fragen auf. War es reiner Zufall, dass das BMI die Kölner Keupstraße auswählte? Wenn es kein Zufall war, wussten die Organisatoren aus den Meldungen zum NSU-Terror, der das ganze Land erschüttert hat, nicht, dass es sich um einen der Anschlagsorte handelte? Wenn die Organisatoren sich der Bedeutung des Ortes bewusst waren, was genau bezweckten sie mit dieser Auswahl des Ortes? Ist in der Auswahl des Ortes eine versteckte Botschaft an die Muslime oder allgemein die Migranten im Land verbunden?

Bedenkt man aber, dass nur solche Städte, in denen das BMI eine Zielgruppe für ihre Kampagne vermutet, für die Verteilung der Postkarten sorgfältig ausgewählt wurden, so ist von einem bewussten Umgang mit den Orten auszugehen. Begonnen wurde die Aktion in Köln, dem Standort der meisten muslimischen Religionsgemeinschaften, und erst einige Tage später sollten die anderen Städte folgen.

Während der Teilnahme an der „Initiative Sicherheitspartnerschaft“ hatten sich die muslimischen Religionsgemeinschaften immer wieder dafür ausgesprochen, den NSU-Terror und die wachsende Anfeindung gegenüber Muslimen zu thematisieren, was vom Bundesinnenministerium nicht besonders berücksichtigt wurde. Dass das BMI zum Schluss das Thema NSU dadurch mit in die Diskussion aufnehmen würde, dass es einen symbolisch zu nennenden Ort für ihren Kampagnenstart auswählt, ist sicher nicht reine Ironie des Schicksals.

Mit diesem Brief, Frau Bundeskanzlerin, möchten wir Sie darum bitten, sich persönlich für den Stopp der Kampagne-„Vermisst“ einzusetzen, die nun seit Monaten zu einer gravierenden Missstimmung in der Zusammenarbeit zwischen dem Bundesinnenministerium und den muslimischen Religionsgemeinschaften führt und die sich - wegen des fehlenden Respekts und Vertrauens - hoffentlich nicht negativ auf die Zusammenarbeit in anderen Rahmen auswirken wird.


Mit freundlichen Grüßen


Prof. Dr. Ali Dere
DITIB Vorstandsvorsitzender

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